
Marco Polo Reiseführer Lake District
Entdecken Sie den Lake District!Lake District, das Gebiet der Seen. Was für eine Untertreibung! Selbstverständlich gibt es hier im Nordwesten Englands Seen – sogar einige der schönsten der Insel und mit dem Windermere sogar den größten des Landes. Noch viel wichtiger: Es gibt Berge. Und was für welche! Sämtliche Erhebungen Englands über 3000 Fuß (914 m) befinden sich im Lake District, einem Teil der Grafschaft Cumbria. Steile Passstraßen winden sich hinauf. Oben angekommen, bleibt einem beim Anblick des Panoramas nicht selten der Atem stocken. Was die Natur in dieser Ecke über Jahrmillionen erschaffen hat, ist vor allem bei klarer Sicht zum Heulen schön.Der höchste Gipfel ist mit 978 m der Scafell Pike im Nordwesten. Nur Schottland und Wales haben Höheres zu bieten, aber das gönnt man den Nachbarn hier gern. Denn die Bewohner wissen, dass sie das Privileg haben, in einer der traumhaftesten Gegenden der Britischen Inseln leben zu können. Der Dichter William Wordsworth bezeichnete den Lake District einmal als den „schönsten Ort, den der Mensch jemals gefunden hat". Er musste es wissen: Wordsworth wuchs in Cockermouth am Rand des heutigen Nationalparks auf, und er verbrachte die weitaus meiste Zeit seines Lebens mittendrin, in Grasmere und Rydal. Mit ihrer fortwährenden Schwärmerei über die Gegend legten er und andere Schriftsteller unabsichtlich die Wurzeln für den Massentourismus.2362 km2 misst das Gebiet der Lakes, wie der Lake District hier in der Gegend genannt wird, fast so viel wie das Saarland. 1951 wurde er zum Nationalpark ernannt, einem von insgesamt 15 der Insel, 2017 endlich erhielt er den lange ersehnten Status als Weltkulturerbe. Lakeland, so eine weitere Bezeichnung, ist gespickt mit rund 1000 Seen. Kurioserweise gibt es trotzdem nur einen richtigen lake, den Bassenthwaite Lake: Alle anderen tragen die Bezeichnung water oder mere, die ganz kleinen heißen tarn – feine Unterscheidungen in der englischen Sprache.Der Windermere ist mit 17 km Länge der größte See Englands. Dazu gesellt sich ein weiterer Rekordhalter: Der Wast Water ist mit 79 m Englands tiefster See. Das ist den Menschen vor Ort aber einigermaßen gleichgültig: Ein Spaziergang um eines der Gewässer ist eine ganz besondere Form der Entspannung. Egal, ob es nun einen Rekord hält oder nicht. Viele der Seen werden Sie bei einem Besuch fast für sich allein haben, von den allgegenwärtigen Herdwick-Schafen einmal abgesehen. Nur auf den großen, touristisch beinahe schon zu gut erschlossenen Seen wie Windermere und Ullswater begegnen Sie Ausflugsschiffen und Reisegruppen aus aller Welt. Denn die Schönheit des Lake Districts hat sich längst auch bis Asien und Amerika herumgesprochen. Ansonsten ist fast der gesamte Nationalpark eine Besinnung auf das Wesentliche: auf sich selbst. Viele Briten kommen sogar nur mal zwischendurch für ein Wochenende her. Denn außer wandern können sie im Lake District perfekt klettern, Boot fahren und drachenfliegen.Manche wollen auch nur in einem der jahrhundertealten Dörfer entspannen. Diese vielen kleinen Orte hauchen dem Lake District Leben ein. So zum Beispiel Grasmere, ganz im Zentrum des Nationalparks. Die Hauptstraße schlängelt sich hier in Kurven durch das Dorf, so eng, dass Autos nur mit Tempo 30 fahren dürfen. Kleine Geschäfte reihen sich aneinander, der eine oder andere Pub und die obligatorische Kirche. Die Häuser fügen sich perfekt in die Umgebung ein, sie sind hier im zentralen Lake District meist aus Granit oder Schieferstein gebaut, manchmal weiß angestrichen, die Dächer mit Schiefer gedeckt. Dagegen begegnen Sie in den Außenbezirken eher dem für Nordengland typischen roten Sandstein. Tagsüber stoppen viele Tagesbesucher für einen kurzen Blick in den Dörfern. Wenn sie abends abreisen, die Kühe von der Weide geholt sind und der angrenzende See still ruht, dann zieht es die Bewohner in die Restaurants und Pubs. Erst bei einem guten Essen und einem Getränk lernt man einen Ort im Lake District richtig kennen, kommt mit Einheimischen ins Gespräch und erhält von ihnen vielleicht sogar noch den einen oder anderen guten Tipp für eine Wanderung am nächsten Tag.Wandern ist so etwas wie Volkssport in dieser Gegend. Fast überall finden Sie einen Parkplatz, von dem aus Sie zu kurzen wie längeren Touren aufbrechen können. Viele Wege sind gut ausgebaut, wenn es auch mitunter etappenweise etwas steil bergauf geht. Aber das bleibt in einer Gebirgsgegend nun mal nicht aus. Erfahrene Wanderer nutzen die großen Passwanderrouten für eine Tour, etwa an der Great Gable, am Kirkstone Pass oder am Hardknott Pass. Nicht ganz so Trainierte halten sich an eine der Routen um einen der Seen. Die sind meist flach und für jeden leicht zu bewältigen.Das Schöne ist: Wenn Sie irgendwann genug haben von Bergen und Seen, dann können Sie sich aufmachen an die Küste und eine andere Seite erleben. Reiche Unternehmer aus dem Lake District ließen hier im 17. Jh. Häfen anlegen, um Waren wie Gewürze und Rum in Empfang zu nehmen. Aus den Häfen von einst entwickelten sich kleine Städte wie Whitehaven, die zumindest im Kern noch immer den Charme vergangener Zeiten bewahrt haben.Einen derben Kontrast bildet da die hermetisch abgeriegelte Atomanlage Sellafield, bekannt auch aus den deutschen Nachrichten. Unzählige Castortransporte endeten hier, um Brennstäbe wieder aufarbeiten zu lassen. Durch umfangreiche Forschung entwickelten sich die Briten hier im Westen des Lake Districts zu einer der wichtigsten Atommächte der Welt. Doch im Normalfall bekommen Sie davon auch vor Ort nichts mit. Einzig ein paar Wegweiser fallen an der Küste immer wieder auf.Solche Schilder sind übrigens eines der besten Indizien dafür, dass im Lake District auf gewisse Weise die Zeit stehen geblieben ist. Die gusseisernen Pfosten mit den weiß-schwarzen Richtungsweisern wurden im Rest des Landes schon vor Jahrzehnten durch auffällige moderne Schilder ersetzt. Nicht hier im Nationalpark. Fehlende Mischbatterien im Badezimmer sind ein weiteres Anzeichen: In weiten Teilen Englands sind sie längst eine Selbstverständlichkeit. Im Lake District aber werden Sie normalerweise nach wie vor getrennte Hähne für heißes und kaltes Wasser finden. Es gibt strenge Auflagen für den Erhalt der teils jahrhundertealten Gebäude in dieser Gegend, und mancher Hausbesitzer übertreibt es mit der Besinnung auf alte Errungenschaften. Ein bisschen ist es im Lake District wie mit den englischen Seebädern: Lange bevor Billigflieger britische Urlauber für wenig Geld nach Spanien & Co. brachten, waren sie die wichtigsten Urlaubsziele. Den Ärmelkanal zu überqueren, das kostete Überwindung, selbst wenn die Fähren schon damals im dichten Takt fuhren. Aber wer wollte damals schon nach Frankreich, über Jahrhunderte Erzfeind der Nation? Deshalb werden Sie heute noch viele ältere Briten im Nationalpark antreffen. Früher wanderten sie auf die Berge, heute, in fortgeschrittenem Alter, lassen sie sich vielleicht mit dem Bus von A nach B bringen. Doch die Besucherstruktur des Lake Districts wandelt sich in jüngster Zeit – junge Familien reisen hierher, fast überall sieht man Kinder, denn für sie sind die Seen eine perfekte Spielwiese.Und es kommen immer mehr Sportbegeisterte: Radfahrer kämpfen sich die Passstraßen hinauf, um für größere Ereignisse zu trainieren, Drachenflieger, Reitfans. Zudem wächst auch eine neue Generation von Wanderern heran, die Gefallen daran findet, ohne große Ausrüstung auf überwiegend gut ausgebauten Wegen sensationelle Landschaften zu entdecken. Wenig Risiko, maximaler Spaß, und ein Minimum an Planung garantiert, dass am Ende fast immer ein Pub steht – Après-Hike statt Après-Ski, das ist hierzulande nicht ganz unwichtig. Auch wenn es in den Kneipen in Nordengland in der Regel deutlich gesitteter zugeht als in den Alpen. Immerhin haben die meisten nach einer Wanderung in dieser Gegend nur einen Plan: Am nächsten Tag wollen sie wieder hinaus, auf den nächsten Berg, um den nächsten See!